Gojira – L’Enfant Sauvage
2010 befanden sich Gojira am Scheideweg. Die französischen Tech Metal-Experten waren zwei Jahre mit ihrem Album „The Way Of All Flesh“ unterwegs gewesen, wurden von Metallica als Opener für deren Tour ausgewählt und supporteten Lamb Of God, während Frontmann Joe Duplantier auf dem Cavalera Conspiracy-Debüt „Inflikted“ mitspielte. Erstmals ohne Management- und Label-Deal unterwegs, begab sich das Quartett aus Bayonne ins Studio ohne fixen Zeitplan. Herausgekommen ist dabei „L’Enfant Sauvage“ (dt. „Das wilde Kind“) für das man bei Roadrunner unterschrieb. Joe Duplantier befasst sich mit einer der großen Fragen der Menschheitsgeschichte: „Was ist Freiheit?“
Antworten hat er nicht gefunden, nur noch weitere Fragen, die das Leben an sich als Mysterium entlarven. Ebenso spielen Qualitäten wie Ehrlichkeit und Integrität eine wichtige Rolle. Gojira wollen sich selbst treu bleiben, das „innere Kind“, auf das Duplantier immer wieder anspielt, rein und pur belassen. Mit Brachialgewalt, progressivem Gummitwist und mächtig Groove gelingt das den Franzosen offensichtlich am besten. „Explode“ macht genau das, was der Titel besagt, und geht in ein gleißendes Inferno auf. Das Tempo ist hoch, die Gitarren quietschen und kreischen schmerzverzerrt, dazu kommt ein martialischer Midtempo-Part mit dezenter Ambient-Schlagseite, mit dem es gemächlich gen Outro geht. Gojira sind bestens bekannt für diesen musikalischen Spagat, dieses plötzliche, nicht greifbare Wechseln zwischen verschiedenen Stimmungen.
Davon gibt es auf Albumlänge selbstverständlich mehr. Der Titeltrack „L’Enfant Sauvage“ erhöht das Tempo noch einmal um eine Spur, bietet aber ebenso melodische, beinahe nachdenkliche Momente, bevor ein Machine Head-artiger Proto-Thrash-Groove das Ende heraufbeschwört. „Liquid Fire“ ist eine, nun ja, feurige Hymne mit effektbeladenem Klargesang und einem jener großartigen Refrains, die vehement nach ‚Genre-Hit‘ schreien (auch „The Gift Of Guilt“ hat so einen martialisch-bezaubernden Chorus zu bieten; Trivium lassen grüßen). Ebenso klar auf der Habenseite: „Mouth Of Kala“, eine verspielte Reise durch sämtliche Prog-Extreme. Lichte Opeth-Momente kollidieren mit Mastodon-Ästhetik und jenem aggressiven, schwer zu beschreibenden Crunch, der den Sound der Franzosen so mächtig erscheinen lässt.
Zum Ende hin wird das fünfte Gojira-Album deutlich Ambient-lastiger. Während „Pain As A Master“ schrittweise zu einer Prog-Antwort auf die letzten Kataklysm-Alben mutiert, taucht „Born In Winter“ in düstere, beinahe antiklimaktische Gefilde ab. „The Fall“ mit seinen Nine Inch Nails-Schleifen baut die bedrückende, beinahe industriell anmutende Stimmung noch einen Tacken weiter aus. Gerade dieses Wechselspiel zwischen Urgewalt, Groove und post-apokalyptischer Atmosphäre macht „L’Enfant Sauvage“ aus. Man muss nicht einmal den Texten großartig folgen, die Arrangements erzählen für sich bereits genug, zeichnen wüste Skizzen der Selbsterkenntnis, bilden das Wunder Mensch mit all seinen Widersprüchen, Ecken und Kanten ab, lassen das wilde, innere Kind ausbrechen und toben, bevor es wieder in den schützenden Kokon flüchtet. Gojira haben ihr fünftes Album einmal mehr zu einer Achterbahnfahrt für Geist, Seele und Nackenwirbel gemacht. Selten konnten Gänsehaut, Luftgitarre und fliegendes Haupthaar so harmonisch miteinander in Eintracht gebracht werden.
Wertung: 9/10
Erhältlich ab: 22.06.2012
Erhätlich über: Roadrunner Records (Warner Music)
Website: www.gojira-music.com
Facebook: www.facebook.com/GojiraMusic
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