Whitechapel – Kin
Kann man bei „The Valley“ von einer Zäsur sprechen? Vor zweieinhalb Jahren brachen Whitechapel ihr Songwriting auf, ließen mehr Melodie und Düsternis zu, verabschiedeten sich aber nicht so ganz von den Deathcore-Wurzeln. Letzteres passiert nun mehr und mehr. Für die US-Band spricht der Fluss des neuen Materials von einer Fortsetzung im Geiste, im Heimstudio von Gitarrist Zach Householder aufgenommen und bereits zum fünften Mal von Mark Lewis produziert. Alex Wade, einer von gleich drei Saitenhexern im Line-up, nennt „Kin“ die erste Platte der Band, die ebenso Rock- wie Metal-Vibes in sich trägt.
Ein Track wie „History Is Silent“ ist typisch für den aktuellen Bandsound und hätte ebenso prima auf „The Valley“ funktioniert. Phil Bozeman erkundet seine eigene Gesangsstimme in fragilen, balladesk angehauchten Gefilden, aus denen sich mit der Zeit schwerfällige, brachiale Groove-Dampfhammer schälen. Dieser Mut zur Hässlichkeit, einstmals durch hohes Tempo und technische Versiertheit ausgedrückt, akzentuiert nun vor allem die neue Präsentation. In „Lost Boy“ legen Whitechapel beispielsweise mit hohem Aggressionslevel los und bemühen die klassische Abrissbirne, nur um am Höhepunkt zu hymnischer Melodik und klaren Momenten zu finden, die sich vermehrt durchsetzen – fast schon Metalcore, aber eben nur fast.
Je länger das Album dauert, desto mutiger wird es. Der abschließende Titelsong ist beispielsweise die große Rock-Ballade geworden, die sich seit „The Valley“ abgezeichnet hatte. Erst die kleine Explosion nach drei Minuten rettet einen Track, der übermütig mit Schmalz um sich wirft. Besser macht es „History Is Silent“, eine von vielen düsteren Nummern, die schwerfällige Growl-Parts neben Verwundbarkeit reiht. In „Without Us“ kommt nach zwischenzeitlicher Härte wieder ein Hauch A Perfect Circle durch – das kennt man bereits. Rabiate Wuchtbrummen, darunter das sich geschickt häutende „To The Wolves“ und das schäumende, stampfende „A Bloodsoaked Symphony“, runden das Geschehen ab.
„Kin“ klingt nahezu exakt so, wie man sich das nach „The Valley“ erwartet hatte. Ja, Whitechapel öffnen sich musikalisch noch weiter und haben eine waschechte Ballade an Bord geholt. Ja, die Düsternis mit Hang zum Klargesang bleibt erhalten und wurde sogar weiter ausgebaut. Und doch nimmt man sich wenig in punkto Härte. Deathcore in Reinkultur mag mittlerweile überwiegend am Rand vorkommen, der Spagat zwischen Licht und Dunkel, Brachialgewalt und feiner Klinge funktioniert dafür prächtig. Ob die kitschigen Anwandlungen notwendig sind, sei dahingestellt, und doch macht die eingeschlagene Richtung abermals mehr als Laune. Als Songwriter waren Whitechapel nie besser.
Wertung: 8/10
Erhältlich ab: 29.10.2021
Erhältlich über: Metal Blade (Sony Music)
Website: www.whitechapelband.com
Facebook: www.facebook.com/whitechapelband
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