Psychonaut – Violate Consensus Reality
Wenn das erste Album bereits komplett durch die Decke ging, was soll da noch groß kommen? Zu Beginn der Pandemie legten Psychonaut das anspruchsvolle „Unfold The God Man“ vor, ein überlanges Werk, das sich intensiv mit zentralen existenziellen Fragen auseinandersetzte und dafür im Prog- und Post-Bereich verschiedenste Extreme heranzog. Gemeinsame Meditationen und lange Diskussionen legten den Grundstein für den Nachfolger: „Violate Consensus Reality“ lehnt die Idee einer grundsätzlich schlechten Menschheit ab und tauscht Individualität gegen das Streben nach einer neuen Gesellschaft, nach einer neuen Zivilisation in einem lebenden, lebendigen Universum ein.
Der knapp neunminütige Titelsong im Herzen des Albums macht recht deutlich, wohin die Reise geht: in vertraute Gefilde, von irdischen Sphären losgelöst und doch so fordernd. Gerade die ersten Minuten, die Klargesang über ähnlich butterweiche, proggige Arrangierung legen, kommen gut. Danach ziehen Psychonaut das Tempo in bester Gojira-Manier an und deuten Groove an, der jedoch in beißende Extreme drängt. Schäumende Wut und beklemmende Schönheit kollidieren und suchen nach einem neuen Weg, um den erst gerungen wird. Wenn schließlich erneut der eingängige wie schwebende Hauptteil einsetzt, ist alles eitel.
Das abschließende „Towards The Edge“ ist sogar noch länger und noch anspruchsvoller. Nicht nur das, knapp 13 Minuten lang halten die Belgier tatsächlich die Spannung. Finstere Doom-Energie kommt hinzu, ohne sich in den Vordergrund zu drängen, die Gitarre ist von Manie durchzogen und symbolisiert tatsächlich ein gewisses Taumeln am Abgrund. Wohin dieser führt? Was auf der anderen Seite wartet? Das minutenlange Crescendo samt ausgedehntem Solo verrät alles und nichts. Doch auch die etwas kürzeren Tracks gehen unter die Haut, darunter das nahezu konstant am Anschlag operierende „Interbeing.“ Ein bis zum Zerreißen gespanntes Nervenkostüm und erhabene Extreme-Fanfaren kollidieren mit Neo-Prog – großes Kino.
Etwas kürzer, aber keinesfalls schlechter: Für Psychonaut-Verhältnisse fällt dieses zweite Album fast schon kompakt aus, was aber zu keiner Sekunde stört. Wo „Unfold The God Man“ mit seiner schieren Wucht und Opulenz verzauberte, glänzt „Violate Consensus Reality“ als vielschichtigeres und zugleich geschliffeneres Album. Das belgische Trio bringt seine konzeptuellen Ideen noch besser zum Ausdruck, von unzähligen musikalischen Kniffen und Wendungen sowie einem Hang zur cleveren Unvorhersehbarkeit durchzogen. Psychonaut haben einen Lauf und halten nun endgültig Einzug in die erste Post-, Prog- und Extreme-Liga.
Wertung: 9/10
Erhältlich ab: 28.10.2022
Erhältlich über: Pelagic Records (Cargo Records)
Facebook: www.facebook.com/psychonautband
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