Insomnium – Anno 1696
Langsam, aber sicher mutieren Insomnium zu Storytelling-Meistern. Das von einer Kurzgeschichte begleitete „Winter’s Gate“ setzte mit Sicherheit entsprechende Hebel in Bewegung und verpasste dem Sound der Finnen zusätzlichen Tiefgang. Auch ihr neuestes Werk stattet Sänger und Bassist Niilo Sevänen mit einer Story aus, die auf historischen Fakten beruht. „Anno 1696“ setzt sich mit Hexenprozessen auseinander, darunter die besonders brutalen Torsåker Hexenprozesse, sowie die schwere Hungersnot der Jahre 1696 und 1697, der 30 % der finnischen Bevölkerung zum Opfer fielen, die zu Kannibalismus und Kindsmord führte.
Dieser Themenkreis verlangt zudem entsprechende wütende Intensität, und „White Christ“ bringt dieses Unterfangen auf den Punkt. Gemeinsam mit Sakis Tolis von Rotting Christ entsteht ein stampfendes, geiferndes Meisterwerk, dessen widersprüchliche Emotionen auf einen überdimensionalen Melodic-Death-Doom-Siedepunkt zusteuern. Selbst im Midtempo kommt die rasende Zerstörungswut von Insomnium deutlich hervor. „Godforsaken“, der zweite Track mit einem Gastbeitrag, geht hingegen deutlich schroffer nach vorne. Zwischen kaskadenartigen Explosionen und ätherischen Zwischenspielen entsteht eine beklemmende wie begeisternde Widersprüchlichkeit, von Folk-Sängerin Johanna Kurkela gekonnt untermalt. Meditativer Prog trifft auf nahezu Black-Metal-artige Eruptionen.
Überhaupt gestaltet sich diese Platte vielfältiger denn je, und das abschließende „The Rapids“ geht mit gutem Beispiel voran. Plötzliche Zwischensprints torpedieren sämtliche Sinne mit wachsender Begeisterung, das Gitarrensolo überrascht mit Prog-Anteilen, und doch können sich die vertrauten Düstermelodien prima ausbreiten. Hingegen geht es „Starless Paths“ eine Spur gemächlicher an. Wie sich hier Spur auf Spur legt, ein Kartenhaus der Selbstzerstörung aufbaut und schließlich mitten in den Malstrom führt, zeugt von Songwriting-Größe, die weit über vertraute Dark-Death-Doom-Klänge hinausgeht. Hingegen wagen Insomnium mit „1696“ eine Art Schritt zurück in vertrautere Gefilde. Auch hier darf es ab und an forsch nach vorne gehen, auch hier funktioniert die Mischung aus Härte, Katharsis und Melodie wunderbar.
Zwar erreichen Insomnium nicht ganz das Niveau der ersten Kurzgeschichte, doch soll das keineswegs stören. „Anno 1696“ ist in jeder Hinsicht ihre bislang ambitionierteste Platte, die viel versucht, die sich musikalisch noch weiter hinauswagt, und die trotzdem als großes Ganzes funktioniert. So bleiben alte Qualitäten weiterhin gut erkennbar, werden mit frischen Ansätzen von brachialer Härte bis feinsinniger Melodik versehen, und ergeben kauzig-charmante Magie. Als Storyteller wachsen die Finnen über sich hinaus, musikalisch stimmt der Weg zu frischen Ufern – ein anspruchsvolles Werk mit feinen Widerhäkchen, das abermals die Qualitäten des Quintetts unterstreicht.
Wertung: 8/10
Erhältlich ab: 24.02.2023
Erhältlich über: Century Media (Sony Music)
Website: insomnium.net
Facebook: www.facebook.com/insomniumofficial
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