Long Distance Calling – How Do We Want To Live?
Der Sound von Long Distance Calling befindet sich in stetem Fluss, machte in den Jahren seit dem Debütalbum verschiedene Inkarnationen durch und sucht weiterhin nach neuen Wegen und Ideen. Da passt es ganz prima, dass sich das deutsche Quartett mit der Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens befasst. Von Digitalisierung bis Lockdown, von Zukunftskritik bis zum Mehrwert technischer Evolution geben sich Dystopie und Schönheit die Klinke in die Hand. All das verbinden die Post-Rock-Experten noch dazu mit einem frischen, etwas elektronischeren Ansatz und stellen eine zeitlose Frage in den Raum: „How Do We Want To Live?“.
Wer jetzt allerdings Beats und Bleeps befürchtet, der sei gleich beruhigt: Long Distance Calling sind keine Techno-Band geworden, sondern beziehen bloß frischen kreativen Mut aus synthetischer Klangästhetik. Ein Track wie „Hazard“ bringt dieses neue Mischungsverhältnis gut auf den Punkt. Die feine, rein instrumentale Klinge bleibt erhalten, nach einer kleinen Zäsur samt Spoken-Word-Passage spielen Synths und Effekte zumindest kurzzeitig eine stärkere Rolle, nur um von wuchtigen Gitarren an die Wand gepresst zu werden. Kleinere Zwischenspiele und Songideen, darunter „True / Negative“ und „Fail / Opportunity“, reizen diese neuen Wege aus und verdichten die Soundtrack-Atmosphäre dieser Platte noch weiter.
Im Kern bleiben sich Long Distance Calling treu und liefern so manche Perle ab. Ein „Immunity“ kann locker mit dem Frühwerk mithalten, gibt sich aufbrausend und zugleich suchend, verengt das Arrangement zusehend und packt einen gewaltigen Höhepunkt aus, den es so am ehesten noch in „Voices“ zu hören gibt. Der Achtminüter lässt sich mehr Zeit denn je und legt die Kollision der synthetischen und organischen Dimension offen. Einen Gesangsbeitrag gibt es ebenfalls. „Beyond Your Limits“ wurde von Eric A. Pulverich (Kyles Tolone) eingesungen. Der bewusste Verzicht auf Namedropping legt den Fokus auf eine angenehme Stimme und einen noch besseren Track, dessen kurzzeitigen metallischen Anwandlungen mitreißen.
Es dauert schon eine ganze Weile, bis diese etwas andere und doch vertraut wirkende Long Distance Calling-Platte zündet – gerade das „Curiosity“-Doppel zu Beginn ist starker Tobak – und doch klappt auch dieser verfeinerte Ansatz wunderbar. Von der Genialität eines „Avoid The Light“ ist das Quartett zwar noch entfernt, liefert allerdings packende frische Akzente, die Großes ankündigen könnten. Gutes Konzept, wertvolle musikalische Verfeinerung und vertraute Post-Rock-Kunst zwischen Soundtrack und Metallischem geben sich die überwiegend instrumentale Klinke in die Hand – ein weiteres Schmankerl mit Grower-Potenzial.
Wertung: 8/10
Erhältlich ab: 26.06.2020
Erhältlich über: Inside Out Music (Sony Music)
Website: www.longdistancecalling.de
Facebook: www.facebook.com/longdistancecalling
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