Wang Wen – 100,000 Whys
Im Zwiespalt zwischen Isolation und Gemeinschaft nahmen Wang Wen ein einzigartiges Album auf. Der Nachfolger von „Invisible City“ wurde noch gemeinsam komponiert, dann schob die Pandemie den Reiseplänen der chinesischen Post-Rock-Band einen Riegel vor. Statt St. Petersburg war man in der Heimatstadt Dalian eingesperrt und musste sich erst einmal in den eigenen Proberaum vorarbeiten, um dort das neue Material aufzunehmen. Das ist nicht zu überhören, wenn „100,000 Whys“ loslegt. Fast ein Jahr nach dem spontanen digitalen Release gibt es nun erstmals eine physische Version in Europa.
„A Beach Bum“ bringt recht gut auf den Punkt, wie dieses veränderte, spontane Umfeld samt Zeitdruck Wang Wen beeinflusste. Der Sound wirkt eine Spur roher und direkter, dabei dennoch überaus clever und detailliert. Der ellenlange Aufbau samt Blechbläsern spielt mit nervöser Energie, wirkt wie getrieben, beinahe hektisch und doch auf wohlige Weise verzaubernd. Es dauert gut sechs Minuten, bis die Distortion schließlich zunimmt und cineastische Härte in neue Welten vorträgt. Das Crescendo ist gewaltig, dramatisch und zugleich magisch, ein ausgedehnter Moment purer Schönheit, dennoch überaus wild.
Solch schroffe Exkurse bleiben aber eine Seltenheit, denn der instrumentale Klang der Chinesen bemüht sich vornehmlich darum, besondere Stimmungen zu erzeugen und diese auszureizen. „Forgotten River“ beschließt das Album exakt so, blubbert butterweich vor sich hin und spielt mit Elementen klassischer Musik. Und doch scheinen sich später die Wolken zu verfinstern, wenn es einen Tacken härter, ruppiger wird. Die etatmäßige Post-Rock-Eruption bleibt jedoch aus, es ist bloß eine weitere Zuspitzung der feinsinnigen, gefühlvollen und zugleich auf beste Weise aufwühlenden Präsentation.
Zwar serviert „100,000 Whys“ keine großen Neuerungen, dafür aber eine weitere Verdichtung des ohnehin faszinierenden Bandsounds. Wang Wen mussten bei den Aufnahmen kräftig umdenken und mit so mancher Einschränkung leben. Das verleiht dem neuen Material eine gewisse Dringlichkeit, selbst in den zarten Momenten. Für die Chinesen ist dies insgesamt dennoch eine ihrer härteren Platten, was zum Zeitgeist passt. Das Warten auf die physische Version hat sich mehr als gelohnt, die Musik bleibt so und so zeitlos.
Wertung: 8/10
Erhältlich ab: 24.09.2021
Erhältlich über: Pelagic Records (Cargo Records)
Facebook: www.facebook.com/wangwencn
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